"Those who do not have power over the story that dominates their lives, the power to retell it, rethink it, deconstruct it ... and change it as times change, truly are powerless because they cannot think new thoughts."
(Salman Rushdie)
Im April 2024 unternahm Darrel Toulon mit Studierenden der Performance Arts der ABPU ein mutiges Projekt. In Fortsetzung seiner früheren Arbeiten für das Docu-Dance-Theatre "In the name of the father", die er 2019 in Bosnien (Children born of War) und 2020 in Uganda (Children born in captivity) begonnen hatte, lud er vier Menschen nach Linz ein, die in einem der Heime des "Lebensborn" geboren wurden. Er nannte sie "die erste Generation".
Drei dieser Menschen waren in Feichtenbach, dem einzigen Heim auf dem Gebiet des heutigen Staates Österreich, zur Welt gekommen. Wie alle Heime des "Lebensborn" in Deutschland, Norwegen, Frankreich, Belgien und Luxemburg war auch dieses "SS-Mütterheim Wienerwald" integraler Bestandteil der gezielten Bevölkerungspolitik des NS-Regimes. Aufgenommen wurden nur schwangere Frauen, die den rassistischen Vorstellungen der SS entsprachen. Und auch die Väter der erwarteten Kinder mussten den Wahnvorstellungen eines "reinrassigen Ariertums" entsprochen haben. - Dieser Autor war der einzige Teilnehmer, der auf dem Gebiet des heutigen Deutschland geboren wurde, im "Heim Taunus" in Wiesbaden. Im Jahr 2023 hat er seine Geschichte im Buch "Lügen und Scham. Deutsche Leben" (Vergangenheitsverlag Berlin) veröffentlicht. So war Darrel Toulon auf ihn aufmerksam geworden.
Diese vier Menschen - darunter der renommierte Cellist Valentin Erben, Gründungsmitglied des Alban Berg Quartetts - trafen in Linz auf Menschen der "zweiten" und dritten" Generation", Nachfahren von "Lebensbornkindern". Auch sie kamen mit traumatischen Verletzungen, die ihnen durch das Schicksal ihrer Eltern zugefügt worden waren. Nach dem langen Schweigen in den Familien waren auch sie bereit, sich in dem von Darrel Toulon durch gegenseitiges Vertrauen geschaffenen "safe space" im Institute of Dance Arts (IDA) der ABPU der gegenseitigen Begegnung zu stellen. Und sich zugleich den Studierenden zu offenbaren, die sich für die Elective Week für den Workshop "Prelude: Lebensborn" angemeldet hatten. Was Toulon mit dieser Komposition beabsichtigt, nennt er selbst ein Modell für "participatory performance art, trauma transformation and societal change".
Es ist hier nicht genug Platz, detailliert die unerhörte Mixtur von Vorträgen, Gesprächen, Körperarbeit und kleinen performances, die aus den Lebensgeschichten der "ersten Generation" entstanden waren, zu schildern. Die überaus verdienstvolle Wanderausstellung des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung "Am Rande des Wienerwalds. Der Lebensborn in Feichtenbach", gestaltet von Lukas Schretter, öffnete die Thematik des Workshops auch für alle Besucher der Anton Bruckner Privatuniversität. Die gemeinsame Exkursion zum Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim, diesem unglaublichen Schreckensort, grundierte die Erlebnisse der insgesamt fünf Tage mit tödlichem Ernst.
Als im Juni 2024 beim Symposium Prélude:LEBENSBORN die ersten Arbeitsergebnisse präsentiert werden konnten, wurde allen Teilnehmenden überaus deutlich, wie verdienstvoll die Arbeit von Darrel Toulon ist. Es machte allen spürbar deutlich, zu welchen Transformationen die Umsetzung traumatischer Erlebnisse in Körperarbeit führen kann. Es ist keine Übertreibung, wenn von einer Katharsis, einer "Reinigung" von zurückliegenden Schreckenserlebnissen, die Rede ist. Wenn Kunst zur Läuterung der Seele führt, so muss sie in höchsten Tönen gepriesen werden.
Dirk Kaesler
https://www.kaesler-soziologie.de
Links:
Veranstaltung: Symposium: Artistic Documentation of the Project “Prélude:LEBENSBORN”
Nachbericht: Ausstellung zu LEBENSBORN im April 2024 - Nachbericht
Lesetipp: Geboren im Lebensborn-Heim der Nazis: Drei Menschen erzählen ihre Geschichte (Der Standard, Forschung Spezial, 30. Mai 2024)
Bilder:
Eindrücke vom Symposiums Prélude:LEBENSBORN am 08. Juni 2024 | Fotocredits: Georg Hartl